Dezember 2022: Im neuen Public Sector Magazin von PwC ist ein Interview zum Netzwerk Junge Bürgermeister*innen erschienen: Hier die Langfassung des Gesprächs:

„Die ‚Hände‘ des Staates sind zu oft gefesselt.“

Henning Witzel, Geschäftsführer und Mitinitiator des Netzwerks Junge Bürgermeister*innen über die Herausforderungen jüngerer Menschen in der Politik

 

PwC: Herr Witzel, Sie leiten das „Netzwerk Junge Bürgermeister*innen“. In welchen Lebensjahren sind Bürgermeister:innen jung?

 

Henning Witzel: Aus Netzwerksicht waren junge Bürgermeister:innen bei ihrer jüngsten Wahl unter 40 Jahre alt. Grundsätzlich haben wir aber keine allzu strenge Altersgrenze. Wer mit 40 gewählt wurde, darf schon noch ein paar Jahre mitmachen.

 

Wie viele Bürgermeister:innen waren bei der Netzwerkgründung im Jahr 2019 dabei – und wie viele sind es heute?

 

Bei der Gründung waren es rund 60. Inzwischen ist unser Verteiler auf mehr als 700 Bürgermeister:innen angewachsen. Regelmäßig aktiv sind rund 250. Ich bin mir sicher, dass auch diese Zahl weiter steigen wird.

 

Kommen Ihre Mitglieder von selbst zu Ihnen oder sprechen Sie sie an?

 

[DK1] . Junge Bürgermeister:innen zu identifizieren ist gar nicht so einfach, weil nur die bayerischen Landesämter die Geburtsdaten von Bürgermeister:innen veröffentlichen. Die meisten potenziellen Mitglieder müssen wir also recht mühsam recherchieren, wenn sie sich nicht selbst melden. Uns hat sogar schon mal ein Innenministerium angerufen, um zu erfahren, wie viele junge Bürgermeister:innen im eigenen Bundesland aktiv sind.

 

Wie alt ist der oder die jüngste Bürgermeister:in in Deutschland?

 

Aktuell 21 Jahre jung. Es ist Kristan von Waldenfels. Er wurde 2020 mit 19 Jahren ehrenamtlicher Bürgermeister der Stadt Lichtenberg im oberfränkischen Landkreis Hof.

 

Und wer ist der jüngste hauptamtliche Bürgermeister?

 

Lucas Halle aus Zehdenick in Brandenburg, der im Februar 2022 mit 24 Jahren ins Amt gewählt wurde. Das wäre übrigens in manch anderen Bundesländern gar nicht möglich. In Baden-Württemberg zum Beispiel müssen Bürgermeisterkandidat:innen am Wahltag mindestens 25 Jahre alt sein.

 

Was nützt jungen Bürgermeister:innen ein eigenes Netzwerk?

 

Grob formuliert: Sie finden hier Menschen mit ähnlichen Herausforderungen und Problemen, mit denen sie sich sehr gut austauschen können. Jüngere Bürgermeister:innen verstehen, gewichten und lösen ja etliche Themen anders als ältere.

 

Welche zum Beispiel?

 

Denken wir nur an die dringende Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung, an den immer größeren Fachkräftemangel im kommunalen Sektor, aber auch an persönliche Akzeptanz. Die digitale Verwaltung ist vielleicht nicht für alle Über-60-jährigen Bürgermeister:innen, die möglicherweise nur noch kurz im Amt sind, das drängendste Anliegen. Der Fachkräftemangel und New Work vielleicht auch nicht. Die Jungen müssen länger mit den Konsequenzen ihres Handels leben.

 

Was meinten Sie mit „persönlicher Akzeptanz“?

 

Für einige junge Bürgermeister:innen ist es allein wegen ihres Alters schwierig, sich gegenüber viel älteren Kommunalpolitiker:innen zu behaupten, die mitunter schon jahrzehntelang im Gemeinderat sitzen.

 

Welche Art Menschen sind junge Bürgermeister:innen Ihrer Erfahrung nach?

 

Diese Frage möchte ich für alle Bürgermeister:innen beantworten: Die meisten, die ich erlebe, sind hochengagiert, pragmatisch und moderierend. Sie wollen Interessen im Sinne aller Bewohner:innen ihrer Kommune ausgleichen und möchten deren Leben verbessern. Ich wünsche mir, dass diese sehr positiven Realitäten auch in der Öffentlichkeit stärker zur Geltung kommen. Immer häufiger treten übrigens parteilose Kandidierende an oder sie lassen ihr Parteibuch für das Bürgermeister:innenamt in der Schublade.

 

Sie wünschen sich ein besseres Image. Heißt das, Sie sind mit dem öffentlichen Bild unzufrieden?

 

Nicht nur ich, sondern auch viele Bürgermeister:innen.

 

Weshalb?

 

Ein Beispiel: Vor allem junge Bürgermeister:innen haben noch kleine Kinder – oder bekommen erst noch Kinder. Und wenn sie ihrem Nachwuchs beliebte Kinderbücher wie „Benjamin Blümchen“, „Bibi Blocksberg“ oder „Liliane Susewind“ vorlesen, ist der Bürgermeister dort meist männlich, relativ alt, korrupt, dumm oder alles zusammen. Diese Stereotype sind überwiegend falsch und schädlich für das Amt. Über die negative Darstellung von Bürgermeister:innen in Kinderbüchern  gab es schon 2005 einen interessanten Beitrag der Bundeszentrale für politische Bildung. Leider hat sich dennoch seither nichts oder wenig geändert.

 

Können Sie etwas ändern?

 

Wir müssen auf jeden Fall die Öffentlichkeitsarbeit verbessern. Unser Netzwerk initiiert jetzt zum Beispiel ein Kinderbuch, in dem Bürgermeister:innen realistisch agieren. Sie sind doch Vorbilder, auch für die nächste Generation! Das müssen wir transportieren, sonst bewerben sich bald noch weniger Menschen für das Amt als ohnehin schon.    

 

Auch die fachlichen Herausforderungen für Bürgermeister:innen sind immens. Das gilt ebenfalls für alle Altersgruppen. Welche sind aktuell die größten Herausforderungen?

 

Da fallen mir sofort die Verwaltungsdigitalisierung, der Breitbandausbau, der Bürokratieabbau  und – ganz allgemein – die kommunale Handlungsfähigkeit ein.

 

Es mangelt an Handlungsfähigkeit?

 

Na klar. Bürgermeister:innen und ihre Kommunalverwaltungen müssen sehr viele Anliegen vor Ort umsetzen, die der Bund und die Länder sich wünschen. Kommunen sind gewissermaßen die Hände des Staates – und leider zu oft gefesselt.

 

Was meinen Sie genau?

 

Vor allem meine ich die überwiegend schwache Personal- und die Finanzausstattung. Allein schon deshalb müsste die Bürokratie, müssten Prozesse dramatisch „entkompliziert“ werden. Wenn ich allein an die komplizierten Fördermittelprogramme denke … Oder an den gehobenen Dienst! Auch hierfür brauchen die Kommunen dringend qualifizierte Menschen. Doch für ihre Ausbildung sind die Verwaltungshochschulen des Bundes und der Länder zuständig. Und die bilden schlicht zu wenige Menschen aus.

 

Sie erwähnten auch die Förderprogramme. Sollten sich Bürgermeister:innen darüber nicht freuen?

 

Sagen wir es so: Sie würden sich mehr freuen, wenn mehr Förderprogramme des Bundes und der Länder besser auf die individuellen Bedarfe der Kommunen vor Ort zugeschnitten wären.

 

Inwiefern sind sie es nicht?

 

Wenn der Bund beispielsweise kommunale Kinos fördert, obwohl er für Kinos gar nicht zuständig ist, die Kommunen das Geld für andere Zwecke viel dringender bräuchten, dort aber knapp gehalten werden. Fehlgeleitete Förderungen, die mitunter mehr dem Image des Bundes oder Bundeslandes als kommunalen Problemlösungen dienen, erschweren die Arbeit vor Ort und wirken mitunter sogar demokratiegefährdend, weil selbst die bereits engagierten Kommunalpolitiker:innen erleben, dass sie vor Ort nichts oder wenig bewegen können. Die finanziellen Möglichkeiten und die Steuerungsmöglichkeiten für Bürgermeister:innen – ob jung oder alt – sind im Schnitt viel zu gering.

 

Funktioniert es besser, wenn Kommunen kooperieren?

 

Das kann zumindest funktionieren. Ein Beispiel dafür ist der Zweckverband Interkommunale Zusammenarbeit Schwalm-Eder-West. Hier haben sich fünf nordhessische Kommunen zusammengeschlossen, um ihre Region zu einem Standort mit hoher Lebensqualität entwickeln.

 

Was heißt das konkret?

 

Arbeitsplätze erhalten und neu schaffen, Abwanderung vermeiden, kommunale Ressourcen gebündelt einsetzen, statt sie durch interkommunale Konkurrenz zu verschwenden, und mehr. Ein aktuelles Projekt des Zweckverbands ist die „Smarte Region Schwalm-Eder-West – Land kann digital“. Hier geht es darum, Datenplattformen und intelligente Anwendungen für transparentere Informationen und bessere Dienstleistungen zu entwickeln. Zudem sollen die Verwaltungen mit digitalen Arbeitsabläufen effizienter werden.

 

Im Alleingang könnten die beteiligten Kommunen das nicht?

 

Sehr wahrscheinlich nicht in der derselben Projektqualität wie im Verbund. Und ein junger Bürgermeister aus unserem Netzwerk spielt auch eine wichtige Rolle.

 

Welche?

 

Bei vielen interkommunalen Kooperationen hat die jeweils größte Kommune die Federführung. Das ist auch beim Zweckverband Schwalm-Eder-West so. Allerdings hat beim Smarte-Region-Projekt nicht die größte Kommune des Zweckverbandes, Borken, den Hut auf, sondern die deutlich kleinere Gemeinde Neuental und ihr junger Bürgermeister Phillip Rottwilm. Das hat sicher damit zu tun, dass er deutlich digitalaffiner als seine Kollegen ist.

 

So ist es richtig, oder?

 

Selbstverständlich. Ein geringeres Lebensalter bedeutet schließlich nicht automatisch weniger Kompetenz. Beim genannten Projekt zeigen die älteren Bürgermeister der größten Kommunen mit ihrem Verhalten sogar echte Führungskompetenz: Es geht da eben nicht um Hierarchie, sondern um Themenkompetenz. Das ist ein schöner Beleg dafür, dass die Zusammenarbeit von jungen und älteren Bürgermeister:innen klasse funktionieren kann.